29.06.2020

Polizeischutz ist immer noch Alltag: seit 15 Jahren hat Hanau wieder eine jüdische Gemeinde und inzwischen hat sich viel verändert

Hanau

„Wer ein Haus baut, will bleiben“, sagt Oliver Dainow. Das Haus mussten sie nicht bauen, es stand schon da. Geblieben sind sie, auch wenn es nicht immer Ermutigungen dafür gab. Vor 15 Jahren konstituierte sich in Hanau eine jüdische Gemeinde - 60 Jahre nach deren Auslöschung durch die Nationalsozialisten.

Der Neuanfang sei ein Wagnis gewesen, sagt Dainow, Sprecher der Gemeinde. Denn zuvor besuchten Juden aus Hanau und Umgebung zum Sabbat und an hohen Feiertagen die Synagogen in Frankfurt und Offenbach. Zudem waren 90 Prozent der 63 damaligen Mitglieder älter als 50 Jahre, sagt Dainow.

Heute ist das Durchschnittsalter um ein Drittel gesunken, und die Gemeinde zählt 210 Gläubige. Zumeist sind es Juden mit Wurzeln in Ländern der ehemaligen Sowjetunion. In den 80er und 90er Jahren sei in Deutschland die Zahl der Übersiedler exponenziell gewachsen, nicht zuletzt in Hanau. Damit auch der Glaube ein Zuhause kommt, sei der Wunsch nach einer eigene, verbindenden Gemeinde entstanden. Das Gebäude für das Gemeindezentrum samt Synagoge fand sich in der Wilhelmstraße in der ehemaligen Zahnradfabrik Schwan, das zuvor einige Jahre von der Hanauer Redaktion der Frankfurter Rundschau genutzt worden war.

Die Räume wurden für die neue Nutzung umgebaut und modernisiert. Das schlug mit rund 400 000 Euro zu Buche, hinzu kamen 75 000 Euro für den Einbau von Sicherheitsvorkehrungen. Am 17. April 2005 wurde das Zentrum in einem festlichen Akt mit Stadtoberen und Bürgern eingeweiht.

„Seitdem hat sich viel entwickelt“, sagt Dainow. Damals habe sich der Vorstand die Frage gestellt, „wie attraktiv ist Religion im Jahr 2010, 2020?“ Wie bei allen Religionen bilde der Gottesdienst auch für die Hanauer Gemeinde die Basis. Gleichwohl die Glaubensausrichtung orthodox sei, werde der Gottesdienst locker und interaktiv gestaltet, sagt Dainow. Das hängt seit 2012 mit einer Unterbrechung nicht zuletzt an der Person von Rabbi Simon Großberg, der als „zugänglicher, jugendlich wirkender Mensch“ beschrieben wird. „Es kommen Familien mit kleinen Kindern und Jugendliche, auf denen die Gemeinde was aufbauen kann.“ Es herrscht überdies eine liberale Einstellung. „Wenn jemand am Sabbat zum Gottesdienst mit dem Auto kommt, erlauben wir uns kein Urteil darüber“, sagt Dainow.

Ein Leben in der Gemeinde gibt es etwa mit dem sonntäglichen Jugendzentrum, dem Seniorenclub oder mit Deutschkursen. Das heißt jedoch nicht, man bleibe bevorzugt unter sich, im Gegenteil. 2019 kamen etwa Kulturwochen hinzu. Deren zweite Auflage scheiterte in diesem Jahr wie die geplante Jubiläumsfeier an der Coronakrise. Ruhen muss auch das Jüdische Lehrhaus, das einmal im Monat für jedermann geöffnet ist. Zudem öffnet man sich mit Führungen.

Man fühle sich von anderen jüdischen Gemeinden und Religionen gut aufgenommen, heißt es. Doch die Unbefangenheit etwa einer christlichen Gemeinde hat sich immer noch nicht einstellen können. Der Polizeiwagen während des Gottesdienstes steht immer noch vor der Tür. Das sei ebenso Alltag wie die Hass- und Droh-Mails und ein wachsender Antisemitismus auf der Straße, sagt Dainow.

Der Anschlag auf eine Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 sei ein Schock gewesen. „Viele Leute haben sich Wochen danach nicht in den Gottesdienst getraut.“ Das nächste Trauma sei mit dem 19. Februar gekommen, als ein Rassist in Hanau zehn Menschen ermordete. „Der Tag hat uns gezeigt, was in manchen Köpfen vorgeht“, sagt Dainow. Die Frage „Gehen oder Bleiben?“, wie sie sich mancherorts Juden stellen, ist für die Hanauer Gemeinde aber bereits klar beantwortet: „Weglaufen ist nicht die Lösung.“

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