Jüdische Gemeinde Hanau bekommt neue Heilige Schrift
Es gibt schier unglaubliche Zufälle: Zum Beispiel den mit der E-Mail, die vor etwa drei Jahren eines Abends plötzlich bei Oliver Dainow aufploppte: Ein Link zu einer Versteigerung beim Auktionshaus Sotheby’s in New York. Der Inhalt: Dort sollte ein silberner Thoraschild unter den Hammer kommen. Er war im Jahr 1900 in Hanau bei der Firma Ludwig Neresheimer & Co. angefertigt worden. Der Geschäftsführer der hiesigen Jüdischen Gemeinde war förmlich elektrisiert von der Mail. Schließlich hatte die Gemeinde kurz zuvor beschlossen, eine neue Thorarolle anzuschaffen. Allein das schon eine absolute Besonderheit. Der Thoraschild, der zu den fünf Schmuckstücken der heiligsten Schrift der Juden gehört, wäre das i-Tüpfelchen auf der Neuanschaffung. Ein kunstvoller Schild aus Hanauer Provenienz, in New York ersteigert für eine in der Ukraine angefertigte Thora, beides für die Hanauer Synagoge. Was für eine Geschichte. Es blieb wenig Zeit. Oliver Dainow musste schnell handeln. Quasi im Alleingang. Er steigerte – und hatte Erfolg.
Thoraschmuck in New York ersteigert
Beim Besuch vorige Woche in der Synagoge zeigt Dainow den Schild, dann zieht er vorsichtig die blaue Samthülle von der neuen Thorarolle. Noch hat sie keines der rund 200 Gemeindemitglieder gesehen. Der HA-Fotograf darf exklusiv die ersten Aufnahmen machen. Die Einbringung der Thorarolle erfolgt erst am 29. April nach dem Festakt zum 20. Jahrestag der Neugründung der Hanauer Gemeinde. Dass für eine Synagoge eine neue Thora angeschafft wird, ist äußerst selten. Und die Anfertigung folgt strengen Regeln.
Ein Jahr arbeitet ein sogenannter Sofer an der Rolle, auf der in hebräischer Schrift die fünf Bücher Mose aufgeschrieben sind – auf Pergament, alles kunstvoll von Hand und mit Tusche, 79 980 Wörter und exakt 304 805 Buchstaben. „Das Schreiben ist dabei nicht nur ein handwerklicher, sondern auch ein religiös-spiritueller Akt“, erläutert Dainow.
Thoraschreiber sind rar. Es gibt Sofer-Zentren, in denen auch andere religiöse Texte entstehen, vorwiegend in Israel, den USA und in der Ukraine. Dort wurde auch die neue Hanauer Thora angefertigt, die ursprünglich eine andere Bestimmung hatte. Dainow: „Wir haben sie quasi gebraucht gekauft.“ Doch auch das hat noch seinen Preis: 15 000 Euro, finanziert durch Spender, darunter „zu einem nicht unerheblichen Teil“ (Dainow) von der Wallonisch-Niederländischen Kirche und der katholischen Pfarrgemeinde St. Elisabeth.
Viele jüdische Gemeinden – die nächsten gibt es in Offenbach und Frankfurt – haben mehrere Thorarollen, auch aus ganz praktischen Gründen, wenn etwa bei den Lesungen in den Gottesdiensten aus verschiedenen Abschnitten der Thora in Abstimmung mit den Prophetenbüchern parallel gelesen wird. „Außerdem dokumentieren wir mit der Anschaffung ein Stück Identität und Heimat“, sagt Dainow, „das zeigt eine Fixierung auf den Ort“.
Die bisherige, etwas kleinere Thorarolle ist eine Dauerleihgabe aus Darmstadt. Seit der Neugründung der Gemeinde 2005 gehört sie zur Hanauer Synagoge an der Wilhelmstraße.
Die Historie der Jüdischen Gemeinde Hanau reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Die älteste Urkunde, die das belegt, datiert von 1313. Während der Pestpogrome des Jahres 1349 wurden auch in Hanau Juden verfolgt und umgebracht. Bald existierte die Jüdische Gemeinde nicht mehr. Erst 1603 erließ Graf Philipp Ludwig II. für die Grafschaft Hanau-Münzenberg ein Privileg zur Ansiedlung einer neuen Jüdischen Gemeinde in Hanau. Die Judengasse (heute: Nordstraße) entstand zwischen der Alt- und der Neustadt. Beim Pogrom am 9. November 1938 wurde die Hanauer Synagoge zerstört, 1942 hat man Hanauer Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert, 230 wurden während des Holocausts ermordet.
Die Neugründung der Gemeinde erfolgte am 10. April 2005. Ihr gehörten anfangs 60 Personen an. Ein Großteil der Mitglieder stammt, wie in vielen jüdischen Gemeinden Deutschlands, aus der ehemaligen Sowjetunion.
Nach jüdischem Brauch wird eine Thorarolle in der Regel in einem öffentlichen Akt fertig geschrieben. Das soll auch beim Festakt zur 20-jährigen Neugründung der Hanauer Gemeinde im Congress-Park erfolgen. „Einige Gäste, darunter auch Großspender, werden dem Sofer bei den letzten zehn Buchstaben die Hand führen“, erläutert Oliver Dainow. Dann wird die Heilige Schrift in einer Prozession vom CPH durch den Schlossgarten zur Synagoge gebracht.
Neresheimer Silber kehrt zurück
Dass der vor 125 Jahren hier entstandene Schild aus Neresheimer Silber nach Hanau zurückkehrt, ist auch Isabel Gathof zu verdanken. Die aus Hanau stammende Filmemacherin hatte seinerzeit die E-Mail mit dem Hinweis auf die Auktion in New York an Oliver Dainow weitergeleitet. Von Gathof stammt unter anderem ein Film über den renommierten jüdischen Maler Moritz Daniel Oppenheim (1800-1882), eine der herausragenden Persönlichkeiten der Jüdischen Gemeinde.
(Quelle: op-online.de)