200 Mitglieder, 300 Meinungen – aber ein Herz: Jüdische Gemeinde Hanau feiert 20-jähriges Bestehen – und eine neue Thorarolle
An der Fertigstellung einer Thora, der heiligen Schrift im Judentum, mitzuwirken, ist eine ganz besondere Ehre – und eben jene wurde am Dienstagabend unter anderem dem Hessischen Kultusminister Armin Schwarz, Hanaus Bürgermeister Dr. Maximilian Bieri und Stadtverordnetenvorsteherin Beate Funck im Congress Park Hanau (CPH) zuteil. Mit einem Festakt feierte die Jüdische Gemeinde Hanau dort ihr 20-jähriges Bestehen und zugleich die Einbringung einer neuen Thorarolle in die Hanauer Synagoge.
Vor 20 Jahren, am 17. April 2005, hatte sich die Jüdische Gemeinde Hanau an gleicher Stelle, im damals gerade erst zwei Jahre alten CPH, neu gegründet. Ihre Wurzeln in der Grimmstadt reichen allerdings bis ins 14. Jahrhundert zurück. Die Pestpogrome 1349 und die Deportationen der Nationalsozialisten 1942 hatten das jüdische Leben in Hanau jedoch zweimal völlig ausgelöscht.
Einzige Jüdische Gemeinde im Main-Kinzig-Kreis
Erst mit dem Zuzug sogenannter Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er-Jahren wuchs die Zahl jüdischer Menschen in Hanau wieder an, sodass der Wunsch nach einer eigenen Gemeinde entstand – bis heute die einzige im Main-Kinzig-Kreis. Mittlerweile zählt sie rund 200 Mitglieder. All jene, die am Dienstag den Weg ins CPH gefunden hatten, begrüßte Oliver Dainow, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau, ebenso herzlich wie die zahlreichen Vertreterinnen und Vertreter aus Stadt- und Landespolitik, Wirtschaft, Gesellschaft und anderen Religionsgemeinschaften.
„Ich bin stolz, zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, die nie ihren Humor, nie ihren unbedingten Lebenswillen und nie den Willen zur Gestaltung jüdischen Lebens verloren hat“, sagte Dainow. Mit viel Eloquenz, feinem Gespür für leise wie lautere Töne und einer Prise Selbstironie führte er durch den Abend. Mit einem Augenzwinkern nahm er immer wieder Bezug auf religiöse Regeln und Gepflogenheiten des jüdischen Alltags – „Bei uns ist alles immer ein bisschen komplizierter“ – und brachte damit auch jenen im Publikum jüdisches Leben näher, die sich keiner Religion oder einer anderen Glaubensrichtung zugehörig fühlen. „Man sagt nicht umsonst: Zwei Juden, drei Meinungen“, bemerkte Dainow – das mache das Miteinander zwar manchmal anstrengend, sei aber auch ein Ausdruck von Vielfalt. Hochgerechnet auf Hanau bedeute das: „200 Gemeindemitglieder, 300 Meinungen, aber ein Herz.“
Gerade in Zeiten zunehmenden Antisemitismus sei es entscheidend, gemeinsam für jüdisches Leben einzustehen. Die Unterstützung der Stadt Hanau wisse man dabei besonders zu schätzen, so Dainow in Richtung der anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der Stadt.
Ein Baum als Geschenk zum Jubiläum
Bürgermeister Dr. Maximilian Bieri erwiderte den Dank mit bewegenden Worten: „Die Wiedergründung der Jüdischen Gemeinde vor zwei Jahrzehnten war und ist für uns ein Geschenk.“ Neben Zorn und Scham über die Gräueltaten der Nationalsozialisten bleibe den Generationen nach der Shoah vor allem die Verantwortung für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – und für Sichtbarkeit und Solidarität. Als symbolisches Geschenk zum Jubiläum pflanzte die Stadt einen Baum für die Jüdische Gemeinde im Wilhelmsbader Stadtwald – auf dass er Wurzeln schlagen möge, wie die Gemeinde selbst.
Kultusminister Armin Schwarz, der Grüße der Hessischen Landesregierung überbrachte, betonte: „Angriffe auf jüdisches Leben sind immer auch Angriffe auf Demokratie und gesellschaftliches Miteinander.“ Er hob die Bedeutung von Bildung im Kampf gegen Antisemitismus hervor und zeigte sich beeindruckt vom Projekt „Judentum digital“, einem innovativen Bildungsangebot der Gemeinde, das Einblicke in jüdischen Glauben und jüdische Kultur ermöglicht und hilft, Vorurteile abzubauen.
Auch Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, war aus New York angereist. Er bezeichnete die Existenz der Gemeinde als „ein Zeichen der Resilienz“: „Aus Ruinen entstand ein Ort jüdischer Lebendigkeit – ein eindrucksvolles Beispiel für die Kraft des Neuanfangs.“ Er appellierte an die Anwesenden, gemeinsam an einer Gesellschaft zu arbeiten, in der man ohne Angst verschieden sein kann.
Professor Alfred Jacoby vom Vorstand des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen sprach über die Bedeutung der Thora für Gläubige – ein 5.000 Jahre alter Text, der auch heute noch als Anleitung für einen sinnvollen Lebenswandel gilt: eine Art jüdisches Savoir-vivre.
Dass die Gemeinde zum Jubiläum eine neue Thorarolle anschaffen konnte, ist nicht zuletzt der Unterstützung der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde und der katholischen St.-Elisabeth-Gemeinde in Kesselstadt zu verdanken. Ihre enge Verbundenheit mit der Jüdischen Gemeinde wurde an diesem Abend mehrfach deutlich.
Gemeinderabbiner Schimon Großberg erklärte einige der vielen Regeln, die bei der Erstellung und im Umgang mit einer Thora gelten: Die fünf Bücher Mose werden mit schwarzer Tinte und einer Feder von Hand auf eine Pergamentrolle geschrieben, die aus der Haut eines koscheren Tieres besteht. Die Arbeit eines speziell geschulten Schreibers – eines Sofer – dauert etwa 2.000 Stunden. Verschreibt er sich, beginnt er von vorn. Die Thora darf nicht mit bloßen Händen berührt werden; zum Lesen wird ein silberner Stab, ein sogenannter „Jad“, verwendet. Fällt die heilige Schrift zu Boden, fastet die ganze Gemeinde einen Tag lang.
Feierliche Prozession zur Synagoge
Am Dienstagabend hielt Rabbiner Großberg die kostbare Rolle fest in seinen Händen – und wagte dennoch ein ausgelassenes Tänzchen zu fröhlicher Klezmer-Musik, bevor die neue Thora in einer feierlichen, musikalisch begleiteten Prozession zur Synagoge in der Wilhelmstraße gebracht wurde. Ein bewusst öffentlicher Akt. „Wenn die Sichtbarkeit jüdischen Lebens verschwindet, verschwindet ein elementarer Teil dieser Gesellschaft – und das werden wir nicht zulassen“, betonte Oliver Dainow zum Abschluss. Zugleich äußerte er die Hoffnung, dass es vielleicht eines Tages möglich sein werde, ein solches Fest auch ohne ein Großaufgebot an Polizei feiern zu können.
(Quelle: GNZ.de)