„Es ist ein Hilferuf!“: Eindringliches Gedenken am Platz der zerstörten Synagoge
Mehr als 200 Menschen stehen auf der Nordstraße vor dem Gedenkstein, der auf einer kleinen Grünfläche in der Kurve etwas versteckt hinter Zweigen von Bäumen steht und auf die von den Nazis zerstörte Synagoge auf der anderen Straßenseite hinweist. Es ist der 9. November, der Tag der Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung.
Alle sind gekommen, Senioren und Schüler, evangelische und katholische Christen, Parteimitglieder und die Stadtführung, vom Oberbürgermeister, der keine Rede hält, bis zur Stadtverordneten-Vorsteherin. Beate Funck erschüttern die Zahlen, die sie zusammengetragen hat: Mehr als 7000 Geschäfte wurden landesweit angegriffen oder zerstört, 1400 Synagogen beraubt und in Brand gesetzt, über 1300 Jüdinnen und Juden werden in Konzentrationslager verschleppt, viele sterben.
„Auch in Hanau herrschte eine nie dagewesene Gewalt“, sagt die Parlamentschefin, „in der Judengasse brannte es am Mittag des 10. November“. Am Nachmittag wurde die Leichenhalle auf dem jüdischen Friedhof ein Raub der Flammen, Wohnungen wurden gestürmt, die Bewohner gedemütigt. Nie wieder wegschauen und schweigen, hieß es danach, „aber was heißt das nach dem 7. Oktober 2023“, verweist Funck auf den Antisemitismus nach dem Überfall auf Israel. „Es kann, es darf demonstriert werden“, stellt sie klar, „aber es gibt keinen Freifahrtschein für Hass und Feiern von barbarischem Terror. Die neuen Angriffe seien bedrückend, beschämend, unerträglich“. Und wenn wieder eine israelische Flagge geklaut wird, „dann ziehen wir eine neue auf und noch eine weitere“, trotzt die Politikerin den Widersachern.
Ihr Fazit zur aktuellen Situation lautet: „Wir müssen im Gespräch bleiben, mehr Empathie und weniger Rechthaberei zeigen und den Schmerz aller Seiten anerkennen“. Funck ruft dazu auf, „überall klar gegen Rassismus eintreten“.
Das haben Teenager aus dem Kurs evangelische Religion an der Hohen Landesschule (HoLa) auf ihre Art getan und sich auf Spurensuche begeben. Seit 1602 sei jüdisches Leben in Hanau nachgewiesen.
Die Gräber auf dem eigenen Friedhof, der so alt sei wie ihre 1607 gegründete Schule, werden nie aufgelöst. Die Nazis zitierten Martin Luther, der aufgerufen habe, die Juden zu vertreiben, haben die Schüler herausgefunden. Noch stünden Überreste der Mauer, die das jüdische Ghetto umschloss. „Die Polizei griff nicht ein, die Feuerwehr ließ es brennen“, sei auch über die Pogrome in Hanau bekannt.
„Das Pflaster ist noch da“, haben sie auf dem Hauptbahnhof erkannt, das Pflaster, auf dem ganze Familien standen und auf ihren Abtransport warteten. Die Mädchen und Jungen haben einen Abdruck der Steine gefertigt und dazu Namen auf das Transparent geschrieben. „Heute ist die Polizei da, um zu helfen“, skizziert Dainow, „aber wenig andere“.
„Was jetzt passiert, ist blanker Judenhass“, resümiert der Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde. Er wollte gar nicht reden, könne seine Gefühle angesichts der Geschehnisse in Israel nicht beschreiben in einer Zeit, in der viele nicht wagen, die Tür zu öffnen oder alleine über die Straße zu gehen. Als schlimm empfindet er es auch, wenn Schulen und Kindergärten ihren geplanten Besuch in der Synagoge aus Angst absagen.
„Wir sind zu wenig, wir brauchen Unterstützung“, ruft Dainow in die Menge. Wichtig sei es jetzt zu „wissen, dass man sich auf andere verlassen kann“, auf Menschen, „die sich klar positionieren“. Ein „ja, aber“ akzeptiere man nicht. Die Gemeinde möchte auf jeden Fall ihren „Tag der offenen Tür“ veranstalten, „die Tür so weit wie möglich öffnen“. Für seine offenen Worte erhält er lang anhaltenden Applaus.
Parlamentschefin Funck und OB Kaminsky legen schweigend einen Kranz am Gedenkstein nieder, Rabbiner Shimon Großberg betet das jüdische Gebet für die Ermordeten des Holocaus, „El Male Rachamim“, Holas Blechle spielt getragene Melodien. Viele wollen nicht gleich nach Hause gehen, manche umarmen stumm ihre jüdischen Nachbarn.
(Quelle: Hanauer Anzeiger vom 11.11.2023)