Podiumsdiskussion in Hanau: Terror in Israel, Hass in Deutschland - Wenn Stille in den Ohren dröhnt
Vor dem Kulturforum Hanau parken zwei Streifenwagen. Ein breitgebauter Mann läuft vor dem Eingang auf und ab, auf der Rückseite seines schwarzen T-Shirts steht in großer, weißer Schrift „Security“. Am obersten Treppenabsatz lehnt eine uniformierte Polizeibeamtin am Treppengelände und beäugt die ankommenden Besucher. Einer ihrer Kollegen patrouilliert durch die engen Gänge im zweiten Stock des Gebäudes, vorbei an den Bücherregalen. Er blickt jeden ernst an, der an ihm vorbeikommt, kontrolliert die Flure der Bibliothek im Kulturforum nach Auffälligkeiten.
Es liegt etwas in der Luft, ein Gefühl, das sich nicht leicht in Worte fassen lässt, ein Gefühl, das auch Oliver Dainow in seiner Begrüßungsrede zu beschreiben versucht. „Es ist eine Art Unwohlsein, tief in mir drin. Ich weiß nicht, ob es Angst ist.“ Nach den Angriffen der extremistischen Bewegung Hamas auf Israel habe sich auch die Lage der Juden in Deutschland verändert. Nur schwer zu ertragen, sei das Schweigen, die Stille danach gewesen. Die Stille anstatt Stellungnahmen. Die Stille, die in den Ohren dröhnte.
Podiumsdiskussion statt Witzeabend
Im September begannen die diesjährigen jüdischen Kulturwochen der jüdischen Gemeinde Hanau, quasi eine Reise durch die Facetten des jüdischen Lebens. „Seit dem 7. Oktober werde ich aber immer wieder gefragt, ob wir die übrigen Veranstaltungen absagen wollen. Die Menschen wollen die jüdischen Woche zwar besuchen, sagen aber dennoch ab. Sie fühlen sich unwohl, haben Angst.“
Für Dienstagabend stand eigentlich ein jüdischer Witzeabend auf dem Programm. „Doch wir können uns nicht hier hinsetzen und so tun, als sei nichts passiert“, betont Dainow. Deswegen plante die jüdische Gemeinde kurzerhand um, lud zu einer Podiumsdiskussion ein.
„Wie weit darf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit gehen? Welche Ansätze haben wir in der politischen und schulischen Bildungsarbeit, um dafür Sorge zu tragen, dass Übergriffe wie an Berliner Schulen nicht geschehen?“ Eren Güvercin, Publizist und Gründungsmitglied der Alhambra-Gesellschaft, Rabbiner Andrew Steiman aus Frankfurt, Dr. Reiner Becker, Leiter des Demokratiezentrums Hessen und Marco Weller, Leiter der Abteilung „Einsatz“ im Polizeipräsidium Südosthessen sagten spontan zu, sich diesen und mehr Fragen zu stellen.
Rabbi Steinman bittet um einen Moment der Andacht
Bevor jedoch einer der geladenen Experten eine Antwort geben kann, bittet Rabbiner Andrew Steiman alle Anwesenden sich zu erheben und einen Moment einzuhalten. Er zündet eine Kerze an, einen kurzen Moment lang ist es still. Die Flamme flackert am Docht, der Rabbi setzt sich wieder. „Angst erzeugen ist eine Waffe. Und Gespräche können diese Angst lindern“, betont er.
Ein Rabbi mit einem Auftrag
Als Seelsorger in einem Altenheim sei er mit einem Auftrag angereist: „Die Bewohner haben mich um etwas gebeten. ‚Wir sind die Generation, die etwas sagen kann‘ hieß es da. Wenn wir nach dem Zweiten Weltkrieg Frieden in Deutschland erreicht haben, dann kann vielleicht noch Frieden in Israel erreicht werden. Wir hatten damals Hilfe von außen. Jetzt sind wir vielleicht die Hilfe von außen.“
Seit dem 7. Oktober ist etwas anders, das weiß auch Eren Güvercin, Publizist, Moslem und Gründungsmitglied der Alhambra-Gesellschaft. „Nach dem massiven Angriff folgte massives Schweigen seitens der großen muslimischen Verbände. Doch als dann Stellungnahmen kamen, da wünschte man sich, sie hätten weiter geschwiegen.“ Güvercin bezieht sich auf die jungen Menschen, die bei Demonstrationen Süßigkeiten verteilten, um zu feiern, dass unzählige Menschen massakriert worden waren.
Die Alhambra-Gesellschaft bezog dann Stellung, zeigte sich solidarisch gegenüber den getöteten Juden. Die Reaktionen seien aber vernichtend gewesen. „Wir wurden beleidigt, wir wurden bedroht. ‚Du bist doch ein Jude, sonst würdest du deine muslimischen Geschwister nicht verraten‘ hieß es in den sozialen Netzwerken“. Solche Reaktionen „widersprechen meinem Verständnis von Religion“, betont Güvercin. „So wurde ich nicht von meinen Eltern erzogen. Wenn ich sehe, dass Unrecht getan wird, dann muss ich mich nicht solidarisch gegenüber meinen Glaubensbrüdern zeigen, dann muss ich nicht mitmachen. Gerade als Moslem muss ich aufstehen und Haltung zeigen.“
Terror und Social Media
Doch der Alhambra-Gesellschaft seien auch positive Reaktionen entgegengebracht worden, von jungen Menschen, jungen Moslems. Genau diese bräuchten im Moment so dringend Vorbilder mit klarer Positionierung. Stattdessen aber werden die grausamen Videos der Hamas in ihren Instagram-Feed gespült. Dabei bediene man sich der Jugendkultur mit billigen Tricks. „Sie werden mobilisiert, manipuliert und rekrutiert. Sie gehen auf die Straße.“
Wer sage, bei solchen Aufständen handele es sich nur um importieren Antisemitismus, der mache es sich zu einfach, betont Güvercin. „Die Mehrheit derer, die an solchen Anti-Israel-Märschen teilnehmen, die sind schon in dritter oder vierter Generation hier. Das sind deutsche Muslime. Zu sagen, mit mehr Abschiebungen bekommen wir das schon wieder in Griff, ist, Verzeihung, Bullshit. Das ist ein deutsches Problem und kein importiertes.“
Die Lage bei der Polizei
Der 7. Oktober habe auch die Abläufe innerhalb der Polizei Südosthessen auf den Kopf gestellt. „Wir arbeiten nun deutlich strukturierter und beurteilen die Lage jeden Tag neu. Alle Präsidien arbeiten dabei zusammen“, berichtet Marco Weller, Leiter der Abteilung Einsatz bei der Polizei Südost Hessen. Mitarbeiter werden durch Gespräche sensibilisiert, auch Infoveranstaltungen für Beamte seien geplant, bei denen sie über den Hintergrund zu dem Konflikt informiert werden.
„Was kann ich konkret tun?“, fragt ein junger Mensch aus dem Publikum. „Diese Frage stellen“, antwortet Rabbiner Steinman ohne zu zögern. „Der Flächenbrand ist doch schon längst hier. Die Hamas begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und wir haben alle versagt. Die Religionen, die Medien. Deswegen halte ich es mit einem Zitat aus dem Talmud: Wenn nicht jetzt, wann dann? Und wer, wenn nicht ich?‘“ Dr. Reiner Becker, Leiter des Demokratiezentrums Hessen, stimmt dem Rabbi zu und wendet sich direkt an den jungen Fragensteller.
Aufstehen und Solidarität zeigen
„Wir wissen schlichtweg nicht, was passieren wird. Besuchen Sie Solidaritätskundgebungen, teilen Sie die richtigen Inhalte, verbreiten Sie Angebote, bieten Sie Hilfe an.“ Auch Weller und Güdercün sind sich einig: Lösungen gibt es keine. Aber in den Austausch gehen hilft. „Bürger können so viel tun“, betont Güdercün. „In der Zivilgesellschaft Solidarität zeigen, beispielsweise.“