26.10.2023

„Jeder von uns hat eine Reichweite“: Podiumsgespräch zum Thema „Terror in Israel – Hass in Deutschland“

News Hanau

Aus aktuellem Anlass hatte die Jüdische Gemeinde mit der Stadt Hanau unter dem Titel „Wir müssen reden: Terror in Israel – Hass in Deutschland“ zu einem Podiumsgespräch ins Kulturforum geladen. Die für diesen Tag ursprünglich geplante Veranstaltung „Lachen mit den Rabbinern Rothschild & Steiman“ im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen Hanau wurde aus nachvollziehbaren Gründen verschoben.

Rabbiner Andrew Steiman aus Frankfurt, Eren Güvercin, Publizist und Gründungsmitglied der Alhambra Gesellschaft, Dr. Reiner Becker, Leiter des Demokratiezentrums Hessen, und Marco Weller vom Polizeipräsidium Südosthessen waren die Podiumsgäste. Politikwissenschaftler Helge Eikelmann moderierte die Veranstaltung, die von Polizeikräften im und um das Gebäude am Freiheitsplatz gesichert wurde.

Oliver Dainow, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde in Hanau begrüßte die rund 110 Gäste und erläuterte die Auswirkungen der Lage in Israel seit dem einschneidenden 7. Oktober auf die jüdischen Gemeinden in Hanau und in Deutschland. Es habe erst mal „ein großes Schweigen“ in der breiten Masse der Zivilbevölkerung gegeben, was auch in der späteren Podiumsdiskussion mehrfach angesprochen wurde. Eine kleine Menge habe sich solidarisiert, so Dainow, aber viele Gruppen hätten geschwiegen oder zur „Ja, aber“-Fraktion gehört. „Diese Reaktion, gepaart mit dem 13. Oktober, als zum Tag des Zornes aufgerufen wurde, haben dazu geführt, dass Juden nicht in die Synagoge gegangen sind, Eltern ihre Kinder nicht in jüdische Schulen und Kindergärten gebracht haben, Sportveranstaltungen abgesagt wurden, weil man Angst hatte.“ Die darauffolgenden Aktionen und Propaganda hätten die Juden in Deutschland extrem verunsichert. Nichts sei seitdem mehr so wie vorher. „Es ist, was uns hier in Hanau betrifft, auch das erste Mal in 16 Jahren, in denen ich hauptberuflich für die Jüdische Gemeinde tätig bin, dass Menschen fragen, ob die Jüdischen Kulturwochen überhaupt stattfinden oder ob alles abgesagt wird. Oder sie sagen, dass sie eigentlich gerne zu den Veranstaltungen kommen würden, aber Sorge um ihre Sicherheit haben.“

Der auf Israel fokussierte Antisemitismus war in der anschließenden Podiumsrunde ebenfalls Thema. Marco Weller, neuer Chef der Abteilung Einsatz des Polizeipräsidiums Südosthessen, erläuterte unter anderem, dass die Polizeikollegen sensibilisiert und für die Situation geschult würden. Außerdem habe man inzwischen die Sicherheitsmaßnahmen angepasst.

Eren Güvercin meinte, dass Antisemitismus in der muslimischen Community, so auch in den Verbänden in Deutschland oder anderswo, ein großes Problem sei. „Darüber müssen wir offen reden“, so der Publizist. Er betonte zugleich, dass er, wie die Mitglieder der muslimischen Alhambra-Gesellschaft, sich davon abgrenzen.

Er stellte auch die Forderung heraus, junge Menschen beim Thema „Rekrutierungen“ durch Islamisten in den sozialen Medien zu sensibilisieren. Dr. Reiner Becker verwies ebenfalls auf die Bedeutung sozialer Medien, wie auch auf das, „was auf der Straße passiert und was in den Schulen“. Die Struktur Schule gebe aktuell nicht her, was sie leisten solle. „Es geht nicht nur um Bildung, sondern um Erziehung und weniger um Methoden als um Strukturen.“ Lehrkräfte fühlten sich oft allein gelassen und hilflos bei Konflikten im Klassenzimmer. Man müsse Lehrer und Eltern unterstützen. Rabbiner Andrew Steiman zitierte den Talmud mit „Wenn nicht jetzt, wann? Wenn nicht ich, wer?“ und bekräftigte, dass das Rationale durch das Emotionale flankiert werden müsse: „Deswegen sind wir heute Abend hier.“

Denn es gehe beim Terrorangriff auf Israel um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um etwas nie Dagewesenes, Brutalität ohne Gewissen und jegliche Heimlichkeit. „Wir sollten uns vor gefühlten Wahrheiten hüten“, so der Rabbiner.

In der nachfolgenden Gesprächsrunde mit dem Publikum ergab sich auch die Frage, was jeder Einzelne im Moment tun könne. Marco Weller meinte dazu, dass Austausch grundsätzlich wichtig sei, und dass man sich als Grundkonsens, unabhängig von einer Religionszugehörigkeit, immer auf die Menschenrechte als Basis einigen könne. Becker ergänzte, dass in vielen Städten Solidaritätsbekundungen mit Israel stattfinden, und dass man in den sozialen Netzwerken entsprechende Inhalte teilen könne.

Der Meinung schloss sich auch Eren Güvercin an, als er sagte, dass man wegkommen müsse von dem Denken, als Staatsbürger nichts tun zu können. „Es gilt, zivilgesellschaftliche Solidarität zu zeigen. Jeder von uns begegnet in seinem Umfeld typischen antisemitischen Stereotypen. Dem sollte man entschieden entgegentreten“, bekundete der Mitgründer der Alhambra Gesellschaft. Und auch Moderator Helge Eikelmann meldete sich hierfür zu Wort: „Die große Mitte schweigt im Moment zu viel. Stellen Sie Fragen! Diskutieren Sie miteinander!“ Rabbi Steimann brachte es schließlich auf den Punkt: „Jeder von uns glaubt, woran er glauben will. Jeder glaubt an irgendetwas. Wir brauchen auch nicht immer eine Antwort auf jede Frage, aber wir müssen im Gespräch bleiben. Es geht nicht nur um Israel. Es geht um die Menschlichkeit. Jeder von uns hat eine eigene Reichweite, die er nutzen sollte.“

(Quelle: Printausgabe des Hanauer Anzeiger vom 26.10.2023)

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