25.10.2023

Vergeben habe ich längst – vergessen werde ich nie: Zeitzeuge Ivar Buterfas-Frankenthal zu Besuch in Hanau

News Hanau

Anlässlich der Jüdischen Kulturwochen in Hanau besucht der Holocaustüberlebende Ivar Buterfas-Frankenthal gemeinsam mit seiner Frau Dagmar das Kulturforum in der Brüder-Grimm-Stadt. Er berichtet nicht nur von seinen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, er schlägt auch auf unvergleichliche Weise einen Bogen in die Gegenwart.

Es ist ein grotesker Anblick: Während Ivar Buterfas-Frankenthal im Kulturforum in Hanau von seinen Erlebnissen und Erfahrungen als Jude im Zweiten Weltkrieg berichtet, von Frieden predigt und verspricht, bis zum letzten Atemzug gegen die rechte Gesinnungen und Hass zu kämpfen, steht eine Polizeistreife vor dem Gebäude, um die Sicherheit aller Besucher zu garantieren. In den vergangenen 30 Jahren ist Ivar Buterfas-Frankenthal bei mehr als 1.500 Veranstaltungen als Zeitzeuge aufgetreten. Das Alter von 90 Jahren hindert ihn nicht daran, weiterzumachen – und das Thema ist aktueller denn je.

Die Aura eines Zeitzeugen

„Es zeugt von einer Tragik, die sich nicht in Worte fassen lässt. Unschuldige Menschen verstecken sich in Bunkern und Kellern. Unschuldige Menschen werden umgebracht – ob nun in der Ukraine oder Israel. Deswegen bin ich hier. Deswegen spreche ich über das, was ich erlebt habe, damit es künftig vermieden werden kann.“ Kaum ergreift Ivar Buterfas-Frankenthal das Wort, ist es still im Kulturforum in Hanau. So still, man könnte eine Stecknadelfallen hören.

An einem Tag zehn Jahre gealtert

Am 16. Januar 1933 kam Buterfas-Frankenthal als jüngstes von neun Geschwistern auf die Welt. „Meine Eltern führten eine sogenannte Misch-Ehe. Meine Mutter war Deutsche, mein Vater war Jude“, berichtet der mittlerweile 90-Jährige Hamburger von seiner Familie. Buterfas-Frankenthal wurde in „das schlimmste Kapitel der Weltgeschichte“ hineingeboren, hat heute noch Alpträume von dem, was er im Nazi-Deutschland erleben musste. „Meine Mutter wollte mir einen Gefallen tun und mich noch einschulen lassen. Hätte sie das bloß nicht getan“, erinnert er sich an eine Szene zurück, die ihn „innerhalb eines Tages um zehn Jahre altern ließ“.

Wie eine Kinderseele zerbrach

Mit sechs Jahren trat er zum morgendlichen Appell auf dem Schulhof an. „Rechts von einem großen Fahnenmast, an dem eine Hakenkreuzflagge wehte, standen die Jungs der Hitlerjungend in ihren Uniformen, links die Mädchen vom Bund Deutscher Mädel. ‚Buterfas‘ rief der Schulleiter da plötzlich. ‚Du Judenlümmel. Lass dich hier bloß nicht mehr sehen. Hör auf, unsere arische Luft zu verpesten.‘ Die Jungen johlten und begannen nach mir zu treten. Ich rannte, doch sie bekamen mich zu fassen.“ Buterfas stockt, es fällt ihm immer noch schwer, diese Erinnerung in Worte zu fassen. „Ich verstand das nicht, ich dachte, Jude sein, das sei eine Krankheit. Sie zogen mir die Hose herunter und brannten mir mit einer Zigarette ein Loch ins Bein. Dann versuchten sie mich bei lebendigem Leib zu verbrennen. Passanten retteten mich.“

An diesem Tag sei seine Kindheit vorbei gewesen. Nie wieder habe er mit anderen Kindern gespielt. Nie wieder sei er in die Schule gegangen. „Es ist so leicht eine Kinderseele zu zerbrechen. Nur, weil jemand anders ist“, sagt Buterfas, vielleicht mehr zu sich selbst, als zu seinem Publikum.

In seinem Vortrag berichtet Buterfas-Frankenthal nicht nur von der Vergangenheit, er schlägt einen beindruckenden Bogen in die Gegenwart. So lasse ihm das Ergebnis der hessischen Landtagswahlen das Blut in den Adern gefrieren. „Ich habe das schlimmste Kapitel der Weltgeschichte miterlebt. Aber wir haben doch etwas daraus gelernt. Ich hoffe, wir verlernen das nicht wieder.“ Dass „immer mehr Menschen mit brauner Gesinnung ihren Unsinn in die Welt tragen“ mache ihm Angst. „Ich wünsche mir nichts zu Weihnachten. Ich wünsche mir nichts zum Geburtstag. Wenn nur unsere parlamentarischen Bänke nicht weiter beschmutzt werden.“ Aber wenn er die jungen Menschen von heute sehe, dann habe er weniger Sorgen. „Sie sind nämlich die Erwachsenen von morgen.“ Bei seinen mehr als 1.500 Vorträgen in den vergangenen 30 Jahren seien es immer die jungen Menschen gewesen, die ihn mit ihrer Auffassungsgabe und ihrer Empathie besonders beeindrucken haben.

Der Vergangenheit erinnern

„Ich bin der letzte lebende Zeitzeuge, der noch über das spricht, was er erlebt hat“, so Buterfas-Frankenthal. „Aber ich muss darüber sprechen. Wenn wir die Vergangenheit verdrängen, dann wiederholen wir sie. Lasst uns gemeinsam den ersten Artikel unseres Grundgesetztes verinnerlichen. Lasst uns aufpassen, dass unsere Republik nicht in die falschen Hände fällt.“ Sehr schwerfällig drückt sich Buterfas-Frankenthal aus seinem Stuhl, seine Frau Dagmar, bei jedem Vortrag an seiner Seite, stützt ihn. „Hier klingelt kein Handy. Hier ist es ganz ruhig, so still und angespannt sitzen Sie hier“, er seinen Vortrag. „Auch wenn es mir in meinem Alter schwerfällt, erhebe ich mich vor Ihnen. Als Zeichen des Dankes und auch des Respekts.“

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