Vielfalt statt Anpassung leben: Autor Max Czollek spricht über Desintegration und überholte Rollenbilder
Der Berliner Autor Max Czollek ist da anderer Ansicht: Bei einer Lesung aus seinen Werken „Desintegriert euch“ und „Gegenwartsbewältigung“ erklärte er dem Publikum im Congress Park Hanau am Dienstagabend, warum und was genau sich hinter diesen Vorstellungen für ihn verbirgt.
Der 1987 in Berlin geborene Max Czollek ist Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und Mitherausgeber der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“. Von 2012 bis 2016 promovierte er am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Mit Sasha Marianna Salzmann kuratierte er 2016 den Desintegrationskongress und 2017 die Radikalen Jüdischen Kulturtage am Maxim-Gorki-Theater. Seine durchaus provokanten Ansichten sorgen immer wieder für Denkanstöße und Diskussion. So bezeichnet Czollek seine zwei Bücher am Dienstagabend auch selbst einleitend und mit einem kleinen Schmunzeln als „unsachliche Sachbücher“. Denn sein Anliegen sei es nicht, das Thema unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten.
Das deutsche Bild von „den Juden“ analysieren
„Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude“, erklärt er. Und das in wechselnder Reihenfolge. Dabei geht es ihm darum, das deutsche Bild von „den Juden“ zu analysieren und zu beleuchten, was die lebenden Juden mit diesem Bild zu tun haben. Denn Czollek ist der Überzeugung, dass ihre öffentliche Repräsentation dabei mehr über die Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft verrate als über das Judentum selbst.
Er geht mit Konzepten wie „deutscher Leitkultur“ oder der Gründung eines Heimatministeriums ins Gericht und kritisiert scharf die Funktionalisierung jüdischer und migrantischer Positionen, die seinen Ausführungen nach dazu dienen, das deutsche Selbstbild zu schönen. Nach Czollek seien „die Juden“ von heute in erster Linie Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters, ein Begriff, den der Soziologe Y. Michal Bodemann geprägt hat. Ein guter Jude sei, wer stets zu Antisemitismus, Holocaust und Israel Auskunft gebe.
Jüdinnen und Juden werde also eine feste Rollenerwartung zugeschrieben, der sie gerecht werden sollen. Mit wachem Auge und scharfer Zunge betrachtet Czollek die Debatte um Integration und Zugehörigkeit aus einem anderen Blickwinkel. Er analysiert geschichtliche Hintergründe, zieht Schlüsse zu deren Auswirkungen auf die Gegenwart.
Beim Blick auf die jüngsten Erfolge rechter Parteien und nationalistischen Gedankengutes schwankt er zwischen Unglaube und Verzweiflung und stellt den Erfolg des Konzeptes Integration damit infrage. Für ihn liegt die Antwort vielmehr in einer pluralen Gesellschaft, und er fordert eine „radikale Vielfalt“. Denn genau diese präge die gesellschaftliche Realität. Statt des ständigen Betonens des Gemeinsamen gehe es auch darum, die Unterschiede zu akzeptiere. „Die Herausforderung ist, dieser Pluralität Raum zu geben.“
Dainow, Citaku und die Gäste kommen mit Czollek ins Gespräch
Die Lesung lief im Rahmen der Festwochen zu „1.700 Jahre jüdischen Lebens“ und wurde in Kooperation zwischen der Jüdischen Gemeinde Hanau und dem „Theater der Vielfalt“ organisiert. Und so nutzten Oliver Dainow, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau, und Aresa Citaku vom „Theater der Vielfalt“ nicht nur die Gelegenheit, dem Autor und seinen Ausführungen zuzuhören, sondern auch, mit ihm ins Gespräch zu kommen und das Gehörte zu vertiefen. Das Publikum war herzlich eingeladen, sich an der tiefgründigen Diskussion zu beteiligen, und nutzte die Gelegenheit dazu gerne. So provokant und knackig Czolleks Thesen auch daherkommen, eines wurde am Dienstagabend schnell deutlich: Ganz so einfach sind die Antworten auf die gestellten Fragen leider nicht. Die Herausforderungen für unsere moderne Gesellschaft sind vielschichtig und komplex. Dies zu akzeptieren und die vorhandenen Unterschiede zu akzeptieren und auszuhalten ist ein wichtiger erster Schritt.
Ebenso das Gefühl des „Verbündetseins“: Denn so können sich auch Menschen, die die Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund ihres persönlichen Hintergrundes vielleicht nicht erleben, für jene einsetzen, die damit Tag für Tag zu kämpfen haben. Es gelte, vorhandene Ressourcen zu nutzen und die Arbeit auf viele Schultern aufzuteilen: „Wir müssen nicht immer alles selbst hinbekommen“, fasst Czollek zusammen. Wichtig sei, dass man auf dasselbe Ziel zulaufe.
(Quelle: Hanauer Bote vom 30.10.2021 / Bildquelle: Anja Zeller)